Gamification – was kann ein Webportal vom Spiel lernen?
Ich habe für das Portal Labkultur.tv einen Fachbeitrag zum Thema Gamification geschrieben. Hier der Beitrag nochmals in voller Länge in meinem Blog.
Wenn ein Trend im Marketing ausgerufen wird, dann springen viele auf den Zug. Marketing-Unternehmen und Berater rufen eine neue Zeit aus, Gartner prognostiziert gar, dass 2015 mehr als 50 Prozent aller Organisationen ihre Prozesse gamifizieren werden.
Ich bin ganz offen, als Experte im Spielebereich beurteile ich Gamification als Buzz-Word, das ich kritisch sehe. Vieles ist alter Wein in neuen Schläuchen. Wenig wird Bestand haben, und dann sprechen wir von bereits existierenden Lösungen, die durch die stärkere Durchdringung von Internet und Mobiltechnologie unaufhaltsam alle Bereiche des Lebens beeinflussen werden.
Was will man erreichen, wenn man Prozesse gamifiziert, also anreichert mit Spielelementen? Ziel ist es, zu motivieren, den inneren Schweinehund zu überwinden und das spielerische Bedürfnis des Menschen zu befriedigen.
Das gelingt – und davon bin ich fest überzeugt – nur bei Prozessen, die keinen Zwang erfordern. Denn Spielen bedeutet Freiwilligkeit. Ich könnte auch anders, etwa bei Sport, Schreiben von Rezensionen, Besuch einer Webseite, Teilnahme an Umfragen, Kauf von Dingen, Ehrenamt …
Intrensische wichtiger als gamifizierte extrensische Motivation
Dabei kann man auch viel falsch machen. Denn aus der Psychologie weiß man, dass internsische Motivation viel wichtiger und wirksamer ist als extrensisch geschaffene. Weshalb es oft kontraproduktiv ist, jemanden für eine Tätigkeit ausschließlich damit zu locken, indem man ihn belohnt oder bezahlt, weil sich so die Motivation externalisiert und an der Belohnung fest macht.
So nutze ich für mich selbst gelegentlich die Nike+ App beim Laufen, nicht weil ich mich nicht aufraffen könnte. Da bin ich genügend intrinsisch motiviert, weil es mir Freude bereitet. Die Gamifizierung erfolgt hier viel komplexer und befriedigt neben Belohnungen vor allem soziale Bedürfnisse. Ich trete nicht nur in einen Wettbewerb, sondern tausche mich aus, fühle mich als Teil einer Gemeinschaft, kann mich exponieren. Diese Bedürfnisse sind selbst für klassische Gamer eine zentrale Motivation, wie es die JIM-Studien belegen. Das gelingt so gut, dass viele schon über ein Zuviel an Stress klagen, denn die Kehrseite ist ein sozialer Druck. Damit muss man umgehen können, ist aber für Menschen, die Prozesse spannend gestalten wollen durch Gamifizierung eine heißersehnte Wunschvorstellung.
Diese Erkenntnis ist zentral und stellt eine große Herausforderung dar, denn so ist Gamification sehr anspruchsvoll gedacht und ziemlich schwierig umzusetzen. Ich möchte aus der mehr als zehnjährigen Erfahrung der Gaming-Plattform Electronic Sports League (ESL) berichten, die für ihr Portal seit 2002 Gamification-Strategien nutzt, um User zu aktivieren und langfristig zu binden, etwa als freiwillige Helfer mehrere Stunden am Tag Streit zu schlichten. Oder als Spieler oft Wettkämpfe anzunehmen. Und als Zuschauer regelmäßig den hauseigenen Web-Sender ESL TV einzuschalten.
Gamifizierung einer Webseite – Beispiel ESL
Wie jedes Portal und Social Network lebt die eSport-Plattform Electronic Sports League (ESL) von der Aktivität und dem Austausch ihrer User. Seit 1997 gelingt es der Seite, sich als das zentrale Portal für das wettbewerbsorientierte Gaming (eSport) zu behaupten und hat früh eine kritische Masse an Spielern, Admins, Lesern, Kommentatoren, Zuschauern und Eventbesuchern geschaffen. Die ESL ist in vielen Dingen Pionier (seit 2002 Web-TV, seit 2002 Premium-Mitgliedschaft, seit 2001 enge Verknüpfung von Web-Portal und Offline-Events). Das war erst mit einem ausgefeilten Belohnungssystem im Sinne einer Gamifizierung der Webseite möglich. Diese Strategien kann jeder Portalbetreiber für sich nutzen:
- Diverse Auszeichnungen für bestandene Spiele, Event-Besuche, Rekorde. Die Batches stehen auf dem eigenen Profil.
- Admins und Schiedsrichter werden motiviert durch soziale Distinktion, sie haben mehr Rechte als klassische User und einen eigenen Bereich. Hierarchien erlauben Auf- und Abstieg (Levels). Gratifikationen wie kostenlose Eventbesuche, Sonderkonditionen für den ESL Shop, Admin-Treffen und interne Würdigung motivieren Zeit und Energie zu investieren
- Mehr als 1000 ehrenamtliche Helfer sind in der ESL aktiv! Sie bilden eine Elite (Subcommunity) innerhalb der ESL. Distinktion ist das entscheidende Element, gerade wenn die Nutzer eh auf Wettbewerb aus sind.
- Eigene Admin-Turniere und Wettbewerbe (geschlossene Events)
- Eine Mitgliedskarte, mit der man sich auf Events einloggen kann
Ich nutze meine ESL-Mitgliedskarte auf jedem Event, um mich einzuloggen. Das verschafft ein gutes Gefühl, selbst wenn der Award auf dem eigenen Profil keine Vorteile im Spiel bringt und nicht belohnt wird mit Geld. Allein die soziale Rendite durch das Gemeinschaftsgefühl und die Würdigung des eigenen Netzwerks sind Treiber. Zudem verbindet die Karte die Online-Welt mit der materiellen Welt.
Premium-Account
Weitere Gamification-Elemente verwendet die ESL in der Umwandlung von Free-Usern zu zahlenden Kunden, die mit dem Premium-Konto viele Vorteile haben.
Die ESL war damit das erste deutschsprachige Portal überhaupt, das ein solches Freemium-Modell nutzte, noch vor Xing, Bigpoint oder Gameforge.
In der ESL sind damit folgende Vorteile verknüpft:
- Keine Werbebanner
- Aktive Unterstützung der Liga
- Zugang zu exklusiven Ligen (z.B. Amateur Series)
- Unterstüzung der ESL Pro Series
- Awards und ihre Verwaltung
- Doppelte Stimme bei der Mapwahl in ESL VERSUS
- Mehr Punkte für jeden Sieg in ESL VERSUS
- Unterstützung der Anti-Cheat Entwicklung
- Keine Wartezeit im Gather
- Mit ESL Wire Anti-Cheat Gather starten
Die fett markierten Vorteile sind gamifizierte Features!
Historie und globale Rankings
Weitere Gamification-Elemente auf der ESL-Seite sind ein globales Aktivitäts-Ranking (Level) sowie eine History der bisherigen Siege und Niederlagen. Das macht das Profil zu einem Spiele-unabhängigen übergeordneten Ausdruck der Spieleleistungen einer Person.
Die Historie der eigenen Aktivitäten ist unabhängig vom Games-Umfeld und kann für jede Webseite genutzt werden. Ich wundere mich, warum die großen Social Networks wie Facebook solche gamifizierten Strategien noch nicht nutzen. Das wird dringender werden, sollte die Aktivität der User zurückgehen.
Spielertypologien beim Gamifizieren berücksichtigen!
Ich bin auf der ESL eher weniger aktiv als Spieler, profiliere mich dafür mit Awards. In der Gamifizierung einer Webseite sollten die unterschiedlichen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Man kann die Spielertypologien von Bartle genauso nutzen für die Zielgruppen, die man über Gamifizierung gewinnen will: Killer, Achiever, Socialiser und Explorer. Diese Typen können als Motivationskategorien gelesen werden: Bei Killer steht der Wettbewerb und das Siegen im Mittelpunkt, beim Achiever das Sammeln von Punkten und Awards, beim Socializer der Austausch mit anderen und die soziale Anerkennung in der Gemeinschaft, beim Explorer schließlich das Erkunden einer unbekannten Welt und dem Sammeln neuer Eindrücke.
Zur Inspiration: Weitere gelungene Umsetzungen für Gamification
– Boinc: Bei Boinc wird die Leerlaufzeit des Computers genutzt, um Krankheiten zu heilen, globale Erwärmung zu untersuchen, Pulsare zu erforschen und vielen andere Arten der wissenschaftlichen Forschung nachzugehen. Die ESL hat den Wettbewerbscharakter dieses gamifizierten Crowdsourcing-Projektes genutzt und die eigene Community sehr erfolgreich aktiviert, zeitweise war die ESL der größte Akteur!
– Diditalkoot: Die Archive der finnischen Nationalbibliothek werden von Freiwilligen/Spielern durchsucht und digitalisiert
– Artigo: Das Institut für Kunstgeschichte verschlagwortet Kunstwerke mit Hilfe von interessierten Personen
– Foldit: Unterstützt Wissenschaftler bei der Entschlüsselung von Erbgut und der Bekämpfung von Krankheiten
– PhotoCity: Städte werden in 3D Modelle umgewandelt mit einer Fotoschnitzeljagd als Spielehintergrund